Ein postf**ktischer Jahresrückblick | Teil 1
Man solle im Jahr 2016 nicht mehr von Neuer Musik sprechen, postuliert ein prominenter Leipziger Komponist ausgerechnet in der neuen musikzeitung, und zeiht seine Genossen der Zeitgenossenschaft. Sicherlich: Das Neue von heute ist das Vorgestrige von übermorgen, und nicht jeder kann ein Bruno Moderna sein. Aber im postf**ktischen Zeitalter sind dies doch ohnehin nur noch leere Kategorien. Ich halte es lieber mit dem kategorischen Infinitiv (»Erst Altes hören, dann Neues reden«) und versuche mich an einem unvoreingenommenen Jahresrückblick zum Gegenwartsmusikleben. Vergessen wir dabei niemals: Jede Musik wird von Kompromisten gemacht, jede Notation ist Nötigung, und jede Musikkritik ist Protesk. Wer bei diesem Spiel mitmacht, hat eh schon verloren. Oder gewonnen, je nach Perspektive.
I. Von Bühnen und aus Sälen
Nach der Opernvorstellung: Szene putzen nicht vergessen! Share on XKürzlich war ich wieder einmal im Opiumhaus und musste erneut feststellen: Wagner macht meist müde. Der Titelheld tönte mich trist an, Brangähne brummelte bräsig und säuselte schläfrig, und Kurvenaal konnte kaum noch geradeaus schwimmen. Da halfen nur Rauschmittel. Zum Glück gibt es bei den Beiruter Festspielen in der kommenden Saison drei Neuinszenierungen: Nilgold, Allah-Dämmerung und Die Meisterbarbiere von Bagdad. Demgegenüber leidet die Chronische Oper an notorischer Finanzknappheit und reduziert ihren Spielplan auf lediglich drei Produktionen: Sparsifal, Das Geizterschloss und Die Pooritaner.
Auch anderswo wird gespart. Wegen Brexit konnte die Englischhorn-Solostelle im Chamber Orchestra of Europe leider nicht wiederbesetzt werden; bei der BBC kommentiert man diesen Vorgang lapidar mit: »Reediculous.« Wo man auch hinschaut, überall wird nur noch aufs Geld und aufs Fleisch geschaut, nicht aber auf künstlerische Qualität. Im Kulturcasino Bern werden nur noch Lieblingsstücke von Bankern gespielt: Bachs Geldborg-Variationen, Rossinis Wertpapier von Sevilla und die »Ballade vom Soll und Haben« aus Weills Dreigroschenopfer. Entsetzliches wird von der New Yorker Mett berichtet:
»Gerswine’s Porky and Beef was dropped from the schedule after only three incarnations because the performance didn’t meat the audience’s taste – they didn’t like the taste of meat, that is.«
Und im vergangenen Monat besuchte ich eine Parodiemesse: Überall nur Plagiate. Immerhin, ein Lichtblick: Theaterdramaturgen denken immer häufiger musikalisch mit und unterlegen Inszenierungen von Brechts Der kaukasische KreideKreis mit Musik von Kreidler und Kreisler. Das zumindest gibt Anlass zur Hoffnung.
Fracking-Gegner
Für die Konzertgarderobe von Dirigenten scheint neuerdings zu gelten: Franck im Frack, Händel im Hemdl. Als Fracking-Gegner bezeichnet man Musizierende, die eine legere Garderobe befürworten, während sie die frackwürdige Kleiderordnung im Orchester ungehemd ablehnen. Hingegen spielen Studierendenorchester, ganz unabhängig von der Bekleidung, zu Probenbeginn prinzipiell einen akademischen Viertelton zu tief.
Und wenn in München tatsächlich ein unterirdischer Konzertsaal gebaut werden sollte, plädiere ich dafür, dass dort auftretende Geigensolist_innen nur Berg-Werke und Bruch-Stücke spielen dürfen. Leider nicht angenommen wurde mein Vorschlag für das musikalische Rahmenprogramm der Olympischen Spiele – eine dreisätzige Komposition:
Trio de Janeiro
- Allegro con Rio (mit olympischem Feuer),
- Andante sportato e sporzando
- Rondinho atlético (Presto allerbesto).
Wie auch immer: Wenn ich mal groß bin, will ich auch ein eigenes Musikfestival mit stylishem Namen kuratieren, zum Beispiel: »Diagonale /// \\\ Festspiele für schräge, schrägliche und unerschrägliche Kunst«. Und sollte ich jemals eine Konzertagentur auf einem Bauernhof betreiben, würde ich trachten, Zubin Mehta und Rolf Zuckowski für ein Crossover-Musikvermittlungsprojekt zusammenzubringen. Arbeitstitel:
Mehta und der Rolf. Ein musikalisches Pärchen für Rinder Share on X
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