VANtwort: Geschichte statt Geschichten – Why not?

Schon vor ein paar Monaten hat Hartmut Welscher beim VAN Magazin einen Artikel veröffentlicht, den ich durch einen Facebook-Post aus Anlass des FAZ-Artikels von Jan Brachmann zur (vermeintlichen) Klassikkrise vor Kurzem entdeckt habe.

Mit manchen Punkten aus dem Artikel hat er mir ziemlich aus dem Herzen gesprochen. Ich stimme zum Beispiel absolut zu, dass es viel selbstverständlicher sein sollte, sich ungezwungen und ohne großes Vorwissen über klassische Musik zu äußern. Meiner Meinung nach sollte man viel öfter Ich finde/denke/glaube“ sagen, anstatt dieses oder jenes immer direkt scheinbar objektiv als großartig oder eben schlecht zu bezeichnen.

Wenn ich Aussagen höre wie „Ich habe das Stück (noch) nicht so ganz verstanden“, gerade bei Neuer Musik, frage ich mich auch, ob die Klassikkultur tatsächlich so intolerant gegenüber subjektiven Meinungen oder Geschmäckern ist, dass man sich nicht mehr traut, sich unbedarft zu äußern. Ich gestehe jedem (auch mir selbst) schlicht und einfach einen persönlichen Geschmack zu der sich aber auch bei näherer Beschäftigung wieder ändern kann! Und als ob man eine Mahler-Sinfonie beim ersten Hören besser „versteht“ als ein zeitgenössisches Stück; vielleicht denkt man das nur, weil sie noch in irgendeiner Form tonal gebunden ist.


Doch manches konnte ich auch nicht ganz nachvollziehen. Dazu habe ich mir ein paar Fragen gestellt:

1. Warum ist es schlecht, dass in der „Klassik“ die Geschichte wichtiger ist als die individuellen Geschichten? Sind der klassischen Musik die „Ich-Erzählungen“ abhanden gekommen oder gab es sie nie in größerem Ausmaß? Ist es nicht einfach eine andere Art von Musik(kultur)? Viele Kompositionen sprechen außerdem problemlos für sich geschichtliches Hintergrundwissen muss man nicht haben, aber es kann einem tiefere Einsichten und ein besseres Verständnis bringen.

2. Werden einem wirklich so viele Steine in den Weg gelegt, wenn man sich unbefangen über klassische Musik äußert? Oder umgekehrt: Wenn ich mich ganz unbefangen über eine Popmusik äußere, von der ich wenig Ahnung habe, kann es da nicht genauso passieren, dass ich von den Fans auseinandergenommen werde?

3. Ist nicht in der Popkultur Wissen ebenso wichtig, nur eben ein anderes? Eines, bei dem man über die „Codes, Ritualen, Verweisen und Alter-Ego-Konstruktionen“ Bescheid wissen muss?

4. Dass sich die Helden der Popkultur „aus der Summe bedeutsamer Geschichte zusammensetzen, die man sich über sie erzählt“, mag sein (hier scheint der Aspekt der Musik aber völlig außen vor gelassen), aber wenn es so ist, wäre das erstrebenswert für die Klassikkultur? Abgesehen davon, dass oft auch das Klassik-Marketing aus Interpreten solche Helden machen will. In gewissen Kreisen wird sich bestimmt schon mehr darüber unterhalten, welche Berühmtheiten man mal gehört hat, als über die Musik selbst.

5. Wenn „die Lebendigkeit einer Kultur aus der Summe der Geschichten besteht, die aus ihr entstehen“, warum hat es die Klassikkultur dann so lange ausgehalten? Und warum sollte sie gerade jetzt zugrundegehen?

Sebastian Herold

Studiert Musikwissenschaft (M.A.) in Mainz. Würde nur promovieren, um seine Mitmenschen dann stets mit gönnerhafter Miene aufzufordern, sie mögen "den Doktor doch weglassen".

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