Nochmal wegen Darmstadt
Jetzt, wo ein paar Tage Alltag vergangen und die Ohren vom Parsifal in Bayreuth ordentlich durchgepustet sind, lohnt es sich vielleicht, einmal mit Abstand auf zwei Wochen Ferienkurse zurückzublicken. Share on XMit dem Abstand ist es in der „NM“-Szene – wie wir Neue-Musik-Kenner sagen – nämlich eine schwierige Sache. Einerseits kommt es einem so vor, als wären alle Beteiligten miteinander verschwägert und verschworen: Komponist*innen, Journalist*innen, Musiker*innen, Wissenschaftler*innen, Intendant*innen. Man kennt sich, man schätzt sich, man ist irgendwo voneinander abhängig und kämpft gemeinsam für das Überleben der nischigen Subszene. Zu dieser großen Familie will man natürlich dazugehören, was gar nicht so einfach ist. Und das sage ich, obwohl ich immerhin schon das dritte Mal in Folge hingefahren bin. Andererseits gibt es zwischen den einzelnen Gruppen offensichtliche Spannungen: Interpreten fühlen sich von Komponisten nicht genug wertgeschätzt und zu wenig einbezogen. Komponisten fühlen sich von Kritikern zu Unrecht verrissen und von Kuratoren vernachlässigt. Wissenschaftler stehen am Rand und erklären allen, was sie falsch machen. Einig ist man sich eigentlich nur, dass alle mehr Geld kriegen sollten.
Dass die Ferienkurse eine Plattform bieten, um über diese Szeneprobleme mehr oder weniger unverkrampft zu reden, ist natürlich eine großartige und meines Wissens einzigartige Sache. Allerdings nennen die Betroffenen bei aller Offenheit in den Diskussionsrunden meistens keine Namen (eine Ausnahme ist Johannes Kreidler, der lustvoll aus bösen/schlechten/fehlerhaften Rezensionen seiner Stücke zitiert). Man deutet an und verunklart – weil das Auditorium selbst gut genug Bescheid weiß, um sich die Zusammenhänge zusammenzureimen. Oder man will umgekehrt selbst nicht erkannt werden, wenn man austeilt.
Wie die Kollegin „Cathérine Fröhlich“ von VAN, die der Kursleitung Oberflächlichkeit unterstellt:
„Die diesjährigen Ferienkurse haben sich Diversity, Genderfragen und Dekolonisierung auf die großen, gut zu fotografierenden Fahnen geschrieben. [...] Schöne Fotos sind keine verwerfliche Sache, [...] aber sie machen noch keine neue Musik.“
Das ist zwar richtig, aber auch ein bisschen tautologisch. So wie die GRINM-Initiative richtig liegt, wenn sie sagt: Die neue Musik ist nicht divers. Das ist ein Satz, den man statistisch belegen und gegebenenfalls mit einer Wertung versehen kann: Die neue Musik ist nicht divers genug. Wer aber in Darmstadt umgekehrt enttäuscht aus dem Konzert geht und sich beschwert: Die diverse Musik (wobei verwirklichte Diversität eher als idealistisches Fernziel gemeint ist) ist nicht „neu“ genug, begeht einen Kategorienfehler. Warum und wie sollte Musik von Menschen, die in der ganzen Musikgeschichte marginalisiert worden sind, genauso oder auch nur ähnlich funktionieren wie das, was wir gewohnt sind?
Wenn auch im Vorbeigehen, ist das die Position, die Kreidler in seiner Lecture „Against Applause“ stark macht: Kritik kann ein Kunstwerk, schon gar ein neues Kunstwerk nicht an Maßstäben messen, die es nicht selbst aufstellt. Dass “Fröhlich” wiederum Kreidlers Intervention dafür angreift, dass darin ein männliches Skrotum gezeigt wird, ist ein klarer Fall von Hyperkritik: Der betreffende Ausschnitt ist eben nicht nur Provokation, sondern klar als Ausschnitt aus einem Kunstwerk markiert, der das Infragestellen moralischer Werte zeigen soll. Gerade die Gleichzeitigkeit von künstlerischer Äußerung mit Äußerung über Kunst macht hier in Darmstadt – und nicht nur bei Kreidler – den Reiz der reflektierenden Formate aus.
Während also die eine Seite den Generationenwechsel bedauert und dem “alten” Darmstadt hinterherzutrauern scheint, ist man sich auf der anderen mit Kreidler und seinen Mitdiskutanten Michael Rebhahn und Jennifer Walshe einig, dass umgekehrt die Tendenz zum De-Skilling auf Seiten der Journalisten, Autoren und Rezensenten zu bemängeln wäre – nicht die Qualität der Musik.
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