Neue Musik: Raus aus dem Giftschrank!

Aus meiner Schulzeit sind mir zwei Schockmomente in Erinnerung geblieben:

1. Als unsere Grundschullehrerin erklärte, dass Frauen ab einem gewissen Alter jeden Monat bluten. Nicht aus der Nase.

2. Als unsere Musiklehrerin eines Tages den Unterrichtsraum mit einem mystischen Lächeln auf ihren Lippen betrat und feierlich verkündete, dass sie uns da etwas zeigen müsse. Wir wären ja jetzt auch schon in der 10. Klasse, alt genug… Es gäbe da nämlich noch ääähm… andere klassische Musik. Eben nach 1900. Dann drückte sie auf “Play”. Es erklang “Gesang der Jünglinge” von Karlheinz Stockhausen. Der Soundtrack meiner zukünftigen Albträume. Den Klassenraum verließ ich sehr verstört. Noch nie hatte ich so eine abartige Abneigung und Unwohlsein im Zusammenhang mit Musik verspürt, nicht mal wenn ich ohne Üben im elenden Klavierunterricht aufgetaucht war. Meine persönliche Vorstellung von Musik war völlig zerstört.

Irgendwann später vollzog auch mein Klarinettenlehrer diesen musikalischen Initiationsritus und legte mir ein Werk mit Entstehungsdatum nach 1945 aufs Pult. Mein damaliger Lehrer vertrat die These “Neue Musik und Mozart-Konzert sind frühestens etwas für die Studienvorbereitung”. Ich wehrte mich wie blöde gegen dieses “Gekrähe”, zu dem ich weder Bezug noch Zugang hatte. Half nichts, weil “muss man eben spielen, steht in den Eignungsprüfungsordnungen”. Immerhin waren dafür keine alternativen Spieltechniken nötig. Was für ein Glück!

In den sinfonischen Blasorchestern (, die eher auf Leistungsniveau statt Alkoholpegel spielten), in denen ich herumgeisterte, waren zur selben Zeit Stücke von Rolf Rudin hoch im Kurs. In der ersten Probe für eines der Orchesterstücke sagte ich damals aus völliger Überzeugung ziemlich laut: “Wenn man das rückwärts spielt, kann man satanische Botschaften hören.” – Damit werde ich heute noch immer aufgezogen.
Ich akzeptierte einfach anschließend für ein paar Jahre/Semester, dass diese Art von Musik, ohne sofort erkennbare Strukturen, Melodien und Themen, scheinbar eine Existenzberechtigung irgendwo im Repertoire hatte. Mein Neue Musik-Happyend (ohne vorherige Thai-Massage): Unser Kompositionsprof, der jede Woche gemeinsam mit uns Musik hörte und jeder in der Veranstaltung seinen Kopf-Kartoffelbrei dazu laut aussprechen durfte. Offen und ehrlich. Außerdem schleppte unser Professor nach und nach seine Komponisten-Szene-Kumpels in die Musikhochschule zur munteren “Ich erzähle euch einen Schwank aus meiner Vierteltonwelt”-Runde. Ich wurde Groupie – nicht nur des Profs. Plötzlich war die Musik aus der Vitrine genommen, Mensch und Musik ungeschützt vor einander.

Moral der Geschichte?

Meine Neue Musik-Sozialisationsgeschichte beschreibt ein Phänomen, das ich allgemein beobachte und gegen das ich so lange schon motze: Neue Musik wird in Schulen und Musikschulen in der Abteilung “Nichts für Kinder” aufbewahrt, der abgeschlossenen Minibar oder der Schmuddelfilm-Ecke. Irgendwann taucht jemand auf und verkündet feierlich, man sei alt genug dafür. Dann darf man. Oder muss man. Aber bitte nur in verantwortbaren Dosierungen! Nunja. Prost! Auch das erste Bier schmeckt bekanntlich oft ekelhaft. Nur gibt es da meistens genug begeisterte Freunde, um weiter damit zu experimentieren, oder eben einen Vater oder großen Bruder, der einem zuprostet.
Bei Neuer Musik ist das wohl anders. Und dann wundern sich alle. Wie? Die Musik versteht so plötzlich keiner? Ernsthaft: Man etabliert jahrelang mühevoll Hör- und Analysegewohnheiten. Dann präsentiert man plötzlich Musik, die erst mal mit den bekannten Werkzeugen nicht zu begreifen ist – und dann wundert man sich, dass die Nummer auf Ablehnung und Unverständnis stößt?! Faszinierend.
Um es zu betonen: Ich spreche nicht von den wunderbaren Education-Angeboten der spezialisierten Vermittelnden. Es geht mir um die Basisarbeit, nicht um die Cocktail-Kirschen. Immer noch bin ich gegen Durch-Türen-Treten statt vermitteln. Eigentlich wünsche ich mir auch ein Recht auf dieses “Kenne ich, schon gehört, aber interessiert mich nicht die Bohne”-Gefühl. Das gilt doch für Jazz und Heavy Metal auch.
Überzeugende Gründe für jahrelanges diskretes Verschweigen der Existenz von Neuer Musik finde ich übrigens bisher keine.

Aber ein paar herbeigefischte Erklärungen:

  • Um es nochmals mit den Jahreszeit-gemäßen Bildern zu beschreiben: Um andere anzustecken, muss man selbst infiziert sein. Also: persönliche Vorlieben der Lehrenden, aber auch deren eigene Bildungsschäden und blinde Flecken.
  • Keine Lust auf Zusatzarbeit durch Vorbereitung, die das Aufschlagen der Instrumentalschule oder des Lehrbuchs übersteigt. Dafür hat man Lehrwerke doch schließlich!?! Oder keine Zeit dafür, ich will mal nicht so gemein sein.Die Annahme, Kinder/Jugendliche seien grün hinter den Ohren und deren Meinung und Geschmack so wankelmütig, dass man diese nicht so ganz für voll nehmen müsse. In der Pubertät ist man bekanntlich eh nicht zurechnungsfähig. Da ist es auch einfach, anstrengende Fragen zu ignorieren statt als Auseinandersetzung anzunehmen.
  • Lehrpläne, die durch mystische höhere Mächte vorgegeben werden.
  • Es gibt einfach nicht genug angemessene Literatur – im Sinne von Instrumentalschulen, Stücken und Texten für Anfänger und Mittelstufe. Die Szene der Neuen Musik suhlt sich gerne in Intellekt, damit zu kokettieren gehört doch zum guten Ton der Eingeweihten (genauso wie Szenetreffen am Arsch der Welt). Dabei zeigt sich Intelligenz und Anspruch doch auch dadurch, dass man Inhalte angemessen an den Menschen bringen kann, oder?
    Als Klarinettistin ist mir keine Instrumentalschule für mein Instrument bekannt, in der Neue Musik eben ganz natürlich eingefädelt wird – maximal existieren “Zusatzkapitel”, die man ganz versehentlich überblättern kann. (Wer mich eines Besseren belehrt, dem gebe ich einen Schnaps aus. Echt jetzt!)
    Wie Moritz Eggert hier so schön erklärt, mag das Fehlen von zeitgenössischen Kompositionen für Kinder/Anfänger auch am gefürchteten “Kinderkomponisten-Stempel” liegen. Zeit für ein superklasse-Modewort: INKLUSION. Neue Musik muss doch auch in Schulen und Musikschulen nicht als Freakshow oder Risikosport präsentiert werden. Sondern als wunderbares Alltagsphänomen. Keine Kategorien künstlich basteln, einfach annehmen, was es ist: MUSIK.

Ich so in 10 Jahren:

Jaqueline-Eleonore, nenne mir 5 Komponierende, vong klassische Musik her. – Hm…, Corelli, Schumann, Glass, Beethoven,… Saariaho?

Ich würde ausflippen vor Freude.

Das könnte dich auch interessieren …

4 Antworten

  1. Frank sagt:

    Ich weis noch genau, wie unser Musik Lehrer Mitte der 11.ten Klasse in unseren LK Musik nach der Zauberflöte und Brahms Klavierquintett zu Bartok kam. Am Rande erzählte er uns etwas von neuer Musik und wir staunten nicht schlecht, als er uns John Cage „4`33“ zeigte (was zugegebenerweise noch sehr human ist). Eigentlich war die Unterrichtseinheit damit beendet aber unser Kurs zeigte so viel Begeisterung das wir uns letztes Jahr in Donau-Eschingen uns die Volldröhnung neuer Musik gegeben haben. Wir haben das Glück einen engagierten Lehrer zu haben, wenn ich mit meinen Freunden von anderen Schulen spreche (die auch Musik LK gewählt haben) weis keiner, wer Stockhausen oder Cage ist.
    Moral der Geschichte?
    Auch „junge“ Oberstüfler können von neuer Musik begeistert sein, sie brauchen nur jemand der sie engagiert in das Thema einführt.

    • Laura sagt:

      Na das ist doch mal eine Geschichte, über die ich mich sehr freue! 🙂 Ich unterstelle auch auf keinen Fall jungen Menschen, dass sie sich nicht begeistern können – das glaube ich eben selbst auch überhaupt nicht, ganz im Gegenteil! Genau solche engagierten Personen (wie euer Lehrer, der dann an eurer Neugierde dran geblieben ist) wünsche ich mir einfach viel mehr.

  2. Neue Musik für Einsteiger

    Zwar nicht für Klarinette, aber für Klavier hätte ich zwei tolle Sammlungen anzubieten, die sanft und ohne Türeintreten in die Neue Musik einführen, beide von der Universal Edition (ich hoffe, das zählt jetzt nicht als Werbung und darf hier gepostet werden):

    1)
    UE_Buch der Klaviermusik (Reger, Kodaly, Bartok, Schienberg, Hauer, Webern, Jelinek, von Einem, Martin, Stockhausen …)

    2)
    UE-Klavieralbum für junge Pianisten / Musik des 20. Jahrhunderts (Schönberg, Stockhausen, Berio, Pärt …)

    Ich finde die Auswahl sehr gelungen! Nach einer Klavierschule für Neue Musik muss man allerdings ziemlich wühlen. Es gab mal eine, aber ich weiß nicht, ob die noch verlegt wird.

    LG Markus

    • Laura sagt:

      Vielen Dank für die Hinweise, klingt sehr gut – Schnaps gibt es aber nur für Klarinetten-Literatur ;-). Irgendwann konzipiere ich einfach selbst passendes Unterrichtsmaterial.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.