Skandal!!!!11!!! Oder was ist eigentlich ein Skandal?

“SKANDAL” in der Staatsoper Hannover. Der liebe Gott hat meine Gebete erhört und ich habe die Möglichkeit, live dabei zu sein, wie Musikgeschichte geschrieben wird. Also potentiell. Es ist immer noch nur die Staatsoper Hannover.

Zwar hatte ich bereits Anfang Dezember davon gehört, dass es auf Grund der ausgesprochenen Altersempfehlung 16+ (nicht -grenze wie zumeist geschrieben) etwas Tumult um den Freischütz in Hannover gibt, jedoch niemals damit gerechnet, dass es am 12. Dezember 2015 in meiner Stadt zu einem Skandal kommen würde.

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Deshalb kam es mir auch nicht in den Sinn, zu einer Premiere eines Werks, die eh nicht zu meinen Lieblingsgattungen zählt, zu gehen. Die Premiere verging ohne mich und der Skandal war da. Na gut, also doch hin. Die nächsten Aufführungen: 23. Dezember 2015 (weil einem da immer so langweilig ist) und 7. Januar 2016. In Zeiten von Amazon Prime und Netflix sind Opernspielpläne gerade zu eine Entschleunigung.

Da es sich für einen richtigen Opernbesuch geziemt, dass man sich vorbereitet, zunächst drei Schritte zurück:

Was ist ein ‘Skandal’?

http://lmgtfy.com/?q=Skandal

Wikipedia sagt:

“Skandal bezeichnet ein Aufsehen erregendes Ärgernis und die damit zusammenhängenden Ereignisse oder Verhaltensweisen.”

Also sowas wie Seehofer, aber der passt nicht zum Thema.

Weiter:

“Dem Medienwissenschaftler Steffen Burkhardt zufolge, ist skandalon ein Kernbegriff des Alten Testaments. Das Skandalon bezeichne alles Böse, das von Gott wegführe. Das Konzept des Skandalons wurde gebraucht, um den moralischen Zusammenhalt und die Integrität der frühen christlichen Gruppen zu stärken und sich nach außen abzugrenzen. Wer sich nicht an die Regeln hielt, dem wurde suggeriert, er befinde sich auf dem Weg des Skandalons, also weg von Gott.”

Das kommt den empörten Kommentatoren auf die Rezension des NDRs doch näher. Sie reden zwar nicht von Gott, sind aber dennoch sehr besorgt von dem, was sie sahen (sofern sie es überhaupt gesehen haben).

Der Pop kennt den Skandal. Waren es in den 90ern Madonna und Robbie Williams, deren Musikvideos erst nach 21 Uhr gespielt wurden und die Kirche kritisch beäugte, sind es heute Miley Cirus auf einem Riesenpenis oder Rihanna in knappen Höschen. Jeder, der nicht nur den Kulturteil der abonnierten Regionalzeitung liest oder im Keller lebt, sollte also mitbekommen haben, dass es diese Popwelt gibt und was sie so macht. Einen Skandal in der E-Kulturwelt zu fabrizieren, scheint schwierig.

Richtige Skandale in der klassischen Musik zu finden, ist ebenso schwierig. Natürlich war das ein oder andere Stück neu für die Ohren des Publikums. Berühmtestes Beispiel für SKANDAL ist die Uraufführung Strawinskys Sacre du Printemps. Gerne wird aber in der Erzählung weggelassen, dass es sich für die Pariser Kulturszene der Zeit geradezu schickte, “Skandal” zu schreien und dies des Öfteren vorkam. Strawinsky konnte von seiner Kunst leben und war schon zu Lebzeiten ein angesehener Komponist. Die wirklichen Skandale kennen wir vermutlich gar nicht, da diese Komponistinnen und Komponisten nie in den Kanon gelangten.

Ein Skandal muss also die Vorraussetzungen haben, der bürgerlichen Mitte vorgespielt zu werden, aber darf seiner Zeit nicht allzu weit voraus sein und dennoch in den Spitzen beispielsweise anzüglich werden, sodass die Damen erröten und die Herren sich räuspern.

Ein anderes Beispiel ist Strauss’ Salome. Salome verlangt den Kopf Johannes des Täufers, weil sie auf ihn steht, er aber nicht auf sie (sagt mir bitte Bescheid, falls Oper mal ein anderes Thema haben sollte). Sie ist wütend und verlangt von ihrem Stiefvater (eine der beliebtesten Suchanfragen auf Pornhub war 2015 übrigens ‘stepma’) Johannes’ Kopf. Der Stiefvater steht auf seine Stieftochter und erfüllt ihr diesen Wunsch. Sie knutscht mit diesem abgetrennten Kopf und dreht ein bisschen durch. Daraufhin lässt ihr Stiefvater sie töten. Das war war also Skandal-State-of-the-Art 1905.

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(„Butterkeks“. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons)

Kommen wir nun zu Hannover 2016: Das Stück ist natürlich anders als man es im Opernführer unter “Freischütz” findet. Das hat einerseits mit der Entwicklung des Regietheaters zu tun, andererseits ist es tatsächlich albern, zu versuchen, es exakt so wie damals bei Weber zu machen. Wenn ich mir heute eine Oper anschaue, dann möchte ich auch vermittelt bekommen, warum sie für mich heute noch eine gewisse Relevanz hat. Ansonsten müsste man nur eine Aufführung produzieren und aufnehmen. Damit hätte die Speichertechnik die Oper abgelöst.

Die Geschichte Max’ und Agathes tritt in dieser Interpretation fast in den Hintergrund und der Schwerpunkt liegt auf Webers Versuch, eine “Nationaloper” zu schaffen. Was möglicherweise abstoßend wirkt: Es gibt eine Traumszene, in der Agathe sich in brauner Soße wälzt, hin und wieder kann man “Penis” hören und am Ende ist Max oberkörperfrei zu sehen.


Eine Freundin, die mich begleitete, kritisierte zu Recht, dass das Bühnengeschehen nicht das vermittelte, was Weber mit seiner Musik aussagen wollte. Es hätte eines anderen Namens bedurft. Denn das, was wir sahen, konnte Weber nicht im Sinn gehabt haben: Hitler, Pegida, Zalando und Co. kamen erst danach.

Ich persönlich fand die Figur des Samiel, der ein großer Part zugestanden wurde, in seiner ganzen Art mit der Lispelei und Tollpatschigkeit super anstrengend. Nicht weil mich Lispeln grundsätzlich stört, sondern weil damit die Figur, die immer wieder gute Gedanken hat, grundlos und ohne Begründung als infantil dargestellt wird. Ansonsten möchte ich mich beim Regisseur Kay Voges bedanken. Hannover spricht über eine Oper und darüber, was Kunst kann und soll. Es sind nicht mehr die Blogger, Wissenschaftler und Künstler unter sich, die sich eh einig sind, dass Kunst notwendig ist. Ihm zu unterstellen, dass er den Skandal wollte, finde ich schwach. Wie gesagt, wer kann damit rechnen, dass wegen Penis und Kacka noch jemand “Skandal” schreit.

Achso … mit Musik hat das ganze übrigens gar nicht zu tun. Die war super. Sagen alle. Vielleicht auch nur, weil man sie schon kannte.

Fazit: Es war eine nette Inszenierung, die aktuelle Themen aufgreift und das Publikum zum Nachdenken herausfordert. Ein Skandal? Nein, aber ein super Marketing für die Oper.


Weiterführende Links zum Hannoveraner “Freischütz”

Rezension der NMZ http://www.nmz.de/online/gescheiterte-nationaloper-gelungener-freischuetz-in-hannover

Noch ne Meinung eines Neben-Neben-Nebendarstellers, der wohl mit mir da war: http://www.crescendo.de/warum-hannover-seinen-freischuetz-aendern-musste-1000010810/ (danke an @kunstfeler für den Tipp)

Pressemitteilung der CDU http://www.cdu-hannover.de/pdfs/2015/pres50_01.pdf

Antwort darauf, die nichts auslässt http://blogs.nmz.de/wm2014/2015/12/16/freischuetz-aesthetische-rechnungsleger-schlagen-rat/

tl;dr: Skandal ist die beste Werbung für ein Stück. Aber auch nicht mehr.

Juana Zimmermann

Tut heute dies, morgen jenes. Morgens schlafen, nachmittags Wissenschaft betreiben, abends schreiben, nach dem Essen kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Schläfer, Wissenschaftler, Autor oder Kritiker zu werden.

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Eine Antwort

  1. Klavierissimo sagt:

    Sehr schöner Beitrag und ein Plädoyer für lebendige Oper. Selbst den Einwand der Freundin finde ich nicht stichhaltig, da eine Inszenierung Grundaussagen eines Stückes „übersetzen“ soll und sich damit natürlich an der Gegenwart orientieren muss. Allerdings sollte nach meiner Meinung das Bühnengeschehen emotional zur Musik passen. Dies kann ich leider nicht beurteilen, da ich den Freischütz noch nicht gesehen habe. Übrigens sehr interessant ist auch der Darmstädter Freischütz.

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