Preiswahnsinn | #playhARD

Im Nacken der Jury (Foto: Laura Wickert)

Stellt euch vor, bei der Fußball-WM endet das Finale unentschieden. Es gibt kein Elfmeterschießen, um die Sache zu entscheiden. Das Publikum muss einfach akzeptieren, dass es ausschließlich Vizeweltmeister gibt, nachdem es viele Spiele mitgefiebert, gelitten und gewettet hat.

Frustrierend?!? Herzlich willkommen in der Gefühlswelt, die der ARD-Wettbewerb nun bei mir hinterlassen hat.

Der Wettbewerb ist (besonders bei Bläsern) DER Traum von sehr vielen jungen Musikern, für Deutschland wohl der wichtigste Wettbewerb für junge Solisten überhaupt. Eine Platzierung verspricht ewigen Ruhm, Ehre und eine unglaubliche Anzahl an neuen Facebook-Freunden/-Likes. Sie verleiht der Karriere mehr Flügel als Red Bull. Im Leben hat man meistens nur eine Chance, das Ding zu reißen. Schließlich muss der Wettbewerbsturnus des eigenen Instruments mit dem eigenen Alter und der perfekten Form auf einen Zeitpunkt fallen! Dann opfert man noch in blankem Optimismus sein Leben, Sozialkontakte und Schlafenszeit für Vorbereitungen auf – bei Wettbewerbsantritt müssen die Stücke (ENORM viele Stücke!) für alle Runden bereits perfekt vorbereitet sein.

In diesem Jahr vier Kategorien: Klavier, Violine, Oboe, Gitarre.

Ein !11!!!!!1!1 erster Preis (Klavier). Acht!!!!!!!11!1! zweite Preise und drei dritte Preise. 640 Bewerber. 200 zugelassene TeilnehmerInnen. Vier Kategorien. EIN erster Preis?!?

WIESO?!

Die Jury kann sich nicht entscheiden

Beim Hören der Wettbewerbsrunden und ausführlichem Stalking, ähm …, „Lebenslauf-Studium“ der Kandidaten wird mir eines klar: Gemeckert wird hier auf einem Niveau, das so hoch ist wie der Stapel meiner „will ich lesen, komme nicht dazu“-Bücher neben dem Bett.

Ein Blick in die Lebensläufe der Oboen-Finalisten: Orchesterjobs, von denen andere noch mit Mitte 40 träumen, ein Lehrerverzeichnis, das sich liest wie eine Liste der einflussreichsten Oboen-Gurus der Welt, mehr Auszeichnungen als ein Dressurpferd. Aus jeder Zeile tropft der Begriff „Exzellenz“, bereits bevor nur ein Ton gespielt wurde.

Wie soll man da noch sagen, wer schöner, interessanter, besser, preisverdächtiger spielt? Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Auch als Jury nicht – obwohl sie es wohl versucht haben (ca. 1,5 Stunden Beratungszeit nach dem Oboen-Finale). Und drei erste Preise wären dann wohl zu teuer geworden. Wer soll denn bitte das Preisgeld (1. Preis: 10 000 Euro) aufstocken? Einen Gruß an meine Rundfunkgebühren an dieser Stelle. Ich sehe, euch geht es gut bei der ARD.

Das Niveau in den Köpfen ist schon so absurd hoch, da kann 2017 kein echter Mensch mehr mithalten. (Ok, außer ein Pianist. Aber Pianisten sind auch Maschinen.)

Geschnittene CDs vergiften die Hörgewohnheiten – wie Plakatmodels werden auch Musikaufnahmen glattgebügelt. (Schon mal die Sportfreunde Stiller live gehört??!)
Alle suchen nach Perfektion, das beginnt mit der Eignungsprüfung an der Musikhochschule und endet wohl in München. Das ewige Streben, Üben, Träumen passt vielleicht einfach nicht in die Realität.

Alle Finalisten, die ich gehört habe, hatten irgendeinen Makel im Spiel. Aber ist es nicht gerade das, was man im Konzert erleben will: menschliche Regung?

Was muss man noch auffahren? Einer der Preisträger im Fach Gitarre ist gerade erst 17 Jahre alt. In einem Jugend-musiziert-fähigen Alter landet man im Finale so eines Wettbewerbs …

Man bastelt am Heiligen Gral der klassischen Musik

Eine Masse an Menschen, die sich berufen fühlen, strebt danach. Keiner wird ihn jemals finden: den Heilige Gral, oder einen ersten Preis im ARD-Wettbewerb Oboe oder Gitarre?!

Strickt man hier an einem Mythos? Funfact für alle Verschwörungstheorethiker: In den letzten 40 Jahren (Oboe: acht Wettbewerbsdurchgänge) (Gitarre: vier Wettbewerbsdurchgänge) wurde jeweils genau ein erster Preis in diesen Kategorien vergeben.

Liebe Jurys,
mir ist ganz bewusst, dass in euren Händen wahnsinnig viel Verantwortung gegenüber Einzelschicksalen, Karrieren und jungen Menschen liegt. Sicherlich seid ihr auch fürchterlich diskret und verschwiegen. Aber hättet ihr nicht einfach einen Zettel mit einer Erklärung zum Schlamassel liegen lassen können, versehentlich?

Ich und viele andere Menschen in Konzertsälen, besonders das buhende Publikum bei der Oboen-Preisverkündung, würden die Entscheidungen gerne verstehen.

Pech gehabt.

Nun zergrübel ich mir also den Kopf. Und gehe zum Ohrenarzt. Sicher ist sicher.

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2 Antworten

  1. huflaikhan sagt:

    Eigentlich ganz einfach. Der Wettbewerb muss manchmal Opfer verlangen, damit er im Wettbewerb der Wettbewerbe nicht als „Hier kriegste immer einen Preis“-Wettbewerb abserviert wird.
    Die Wettbewerbe, bei denen es um glanzvolle musikalische Leistungen von Künstlerinnen geht, gibt es doch fast gar nicht mehr.

    • Laura sagt:

      Ja, leider so wahr. Da geht es schon wieder um den Wettbewerb als Institution, nicht mehr um die Musik. Ein Indiz mehr dafür, dass Wettbewerb und Musik nicht gut zusammen gehen.

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