Der große Verführer

Alles begann mit Don Giovanni. Genauer gesagt: mit der ersten Sekunde einer Aufnahme von Don Giovanni. In dieser Sekunde hört man streng genommen keinen Mozart, sondern einen Dirigenten. Einatmen.
Ich war fassungslos. So fassungslos, dass ich diese Sekunde Atmen mit dröhnendem Anfangsakkord bestimmt 23924703057 Mal in Dauerschleife hören musste, um sicher zu gehen, dass mir mein Hirn keinen Streich spielte. Doch das tat es nicht, das Atmen blieb. Wie wundervoll sinnlich ist dieser Moment, dieser Effekt? Plötzlich wirkte die Musik aus meiner Anlage deutlich menschlicher. Aber auch: Welche fürchterlich egozentrische Person beginnt eine Opernaufnahme mit dem eigenen Atem?

Tadaaa! Da war er also, dieser sagenumwobene Teodor Currentzis. Und mein ganz persönlicher Rausch: Mozart mit ohrenbetäubendem Dröhnen und anwiderndem, ekelhaftem Schmeicheln. Tschaikowsky mit dem Knarzen und sich überschlagenden Spiel der sonderbaren, barfußgeigenden „Göre“ Kopachinskaja (sehr erwachsene Göre natürlich). Verführerischer und zerstörerischer Stravinsky. So viel Sinnlichkeit und Perfektion, ich konnte nicht mehr aufhören, Aufnahmen und Konzertstream-Binge-Watching vom Feinsten.
Ich recherchierte – natürlich wollte ich wissen, wer genau mir da eigentlich ins Ohr geatmet hatte. (Mit biografischen Details und Rezensionshickhack will ich an dieser Stelle niemanden langweilen. Könnt ihr selbst.)

Diagnose: Currentzis-Ekstase.

Statt ihm hinterher zu reisen, an Bühnen-Ausgängen zu lauern oder meine Unterwäsche auf Bühnen zu werfen (darf man das eigentlich, bei diesen “Klassik-Rebellen”?!) stellte ich einfach fest: Ich hatte mich verführen lassen. Klick um zu Tweeten Trotz allem Wissen über Interpretationsgeschichte und „Nanana, das macht man nicht, du Schmuddelkind“! Oder gerade deshalb? Ertappt! Vor meinem inneren Auge tanzten schon die erhobenen Zeigefinger und das böse Wort: BUDENZAUBER!!!!
Aber ist es nicht das, worum der Klassik-Betrieb und seine Musikvermittlung in aller Intellektualität so bitter ringen: Verführungskunst? Oder ist das schon Manipulation und Currentzis ein musikalischer Pick up Artist?

Mit seinem Orchester MusicAeterna hatte Currentzis das „Ist da noch Ton oder mein Tinnitus“-Piano und das „Ich blase euch alle hart aus dem Saal“-Forte kultiviert, ebenso „Ich spucke euch Akzente ins Gesicht“ und „Ich singe Melodien so bezaubernd wie Whitney Houston in ihrer Hochphase“. Das Ensemble spielt im Stehen, besonders der Konzertmeister scheint fast zu tanzen, es wirkt wie gemeinsame Verzückung auf der Bühne. Alles ist ein bisschen viel, nah an der Überzeichnung angesiedelt, aber es zwingt zum Dranbleiben. Ist das schon Gewalt oder noch Stilmittel?
Klar, bei dieser Art von Musizieren ist Ärger vorprogrammiert, besonders von denen, die Bescheidenheit und Ehrfurcht in der Interpretation suchen. Nunja – aber wollten wir nicht raus aus dem Museum mit der Musik und passiert nicht gerade das an dieser Stelle? Ist radikale, streitbare Interpretation nicht besser als keine (oder eben diese Mezzoforte-Konzerte weder Fisch, noch Fleisch)? Darf man nicht auch jedes Konzert ein wenig als Event denken, mit Dresscode und Verhaltenscodex, statt als Andacht?

Currentzis ist ein Meister darin, den Konzertbeginn mitten in den Begrüßungsapplaus zu verlegen und überrumpelt damit das Publikum völlig. Es wirkt wie eine unruhige Geste, „jaja, schon gut, spart euch die Etikette“. Auch nicht sehr respektvoll – oder vielleicht auch ein aktives Hinterfragen der Traditionen? Hat er einfach keine Zeit, keine Geduld?
Gab es eigentlich schon Silbersee-Herzinfarkte in seinen Konzerten? Immerhin als Auslöser davon ausgeschlossen sind hier zu große Ausschnitte. Zum scheinbar gängigen „Sex sells“ der Konzertbühnen gesellt sich in diesem Falle die salonfähige Variante der Kuriosität, das Anders-Sein. Teodor Currentzis erscheint auch optisch als Klassik-Rebell, jenseits des bekannten Dresscodes, in schlabbrigen Hemden und schwarzen Boots mit Undercut auf dem Kopf. Vom Dirigierpult direkt zum Rockkonzert? Kein Problem. Ganz schön cool – oder doch ganz schön viel Marketing?

Abseits von „Hype!!!!!“-Rufen und Fan-Dasein: Mutige Grenzgänger braucht die Szene! Ob Currentzis, Carpenter, Kopachinskaja oder Fröst. Respektverlust und Rotzigkeit – sind das nicht viel legitimere „Begeisterungsmittel“ als Vivaldi mit einem schäbigen Drumset zu unterlegen oder eine Rockband Beethoven spielen zu lassen? Begeistern hier nicht Menschen wirklich für Klassik statt für Beats-Mischmasch? Und ist Authentizität nicht einer der Grundpfeiler der Vermittlung von Dingen an überhaupt irgendwen? Wenn man Klassik wie ein Rockstar interpretiert, sollte man dann nicht auch einfach so aussehen – eben authentisch?

Verführung besteht auch aus der Politur der Oberfläche, aus Interessant-machen und Aussicht auf Genuss. Eine intime Beziehung baut man, wenn überhaupt, danach auf, dann kann es auch unspektakulär werden.
Wenn der Konzertsaal kocht und trampelt, ich mir wieder alle diese Fragen stelle und mit pfeifenden Ohren heraus taumle, werde ich mich auf andere Interpreten freuen – und auf den guten alten intimen Moment der klassischen Musik. Ganz ohne Feuerwerk.

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