Hamburgs Mut zum Hurz
Am Mittwochabend schaltete Deutschland seine Fernseher ein, um endlich zu sehen, was aus den Steuergeldern der letzten Jahre so geworden ist: Die Elbphilharmonie wurde eröffnet!
Nunja. Bekanntlich zeichnet sich das durchschnittliche deutsche Klassikevent im TV durch folgende Elemente aus: unangenehme Halbwissen-Moderationen, “intellektuelle” Prominente, Schunkelfaktor, geschmackvolles Potpourri aus den beliebtesten Opernmelodien und kläglichen Crossover-Versuchen, Anwesenheit wahlweise eines geigenden “Schönlings” mit Rockstarimage oder einer waschechten Operndiva.
Meine niedrige Erwartungshaltung und ich saßen also an unserem Küchentisch und freuten uns auf seichte Berieselung zum Abendbrot. Dann die erste Überraschung: Durch die Königin der charmant-blöden Fragen an diesem Abend, Barbara Schöneberger, ließ der dirigierende / konzipierende Thomas Hengelbrock ankündigen, dass auf Applaus zwischen den Werken verzichtet werde. Dies ließ mich direkt aufhorchen: “Hört hört! Wie rebellisch! Diese Hamburger!”
Das folgende Konzertprogramm brachte mich dazu, mich bei dem unerwarteten Benjamin Britten an meinem fränkischen Kümmelbrot zu verschlucken, dann endgültig an meinem Verstand und Ohren zu zweifeln – dank der unvermittelten Übergänge der Stücke und Star-Sopranist Jaroussky-Engelserscheinungen. (Also wenn das im Barock so klang, glaube ich SOFORT alle Geschichten über Frauen, die heiß auf Kastraten waren.). Es folgte Sabbern und abschließendes vor-Glück-durch-meine-gute-Stube-Springen. Ich war auf einem Trip aus Britten, Praetorius, Zimmermann, Messiaen, Wagner, Rihm… (Nein, keine magischen Pilze oder so.)
Das Kuschelklassik-Publikum
Dass ich das noch erleben darf: Der Tag war gekommen, an dem einer auszog, um dem Kuschelklassik-Publikum und den Komfortzonen-Hörern das Fürchten zu lehren. Musik von ganz alt bis ultraneu. Und das nicht nur mit Versteckspielen in einer Radioshow um Mitternacht oder einem x-beliebigen Konzert, das man so einfach hätte ignorieren können. Sondern im Rahmen eines Events, das sicherlich als “historisch” bezeichnen wird.
Thomas Hengelbrock, dieser verwegene, geniale Drecksack Share on X
Er, der das detaillierte Programm dem Publikum bis zu Beginn des Konzerts verschwieg und so Spannung statt Beschwerden erzeugte. Dafür noch ein High-Five von mir, Hengelbrock!
Ja genau, klassische Musik ist unbequem, fordernd, berauschend, sinnlich, ungewohnt, gleichzeitig neu und sehr alt, schmeichelnd und ätzend. Nein, man muss auch wirklich nicht alles mögen, das ist schon ok! Warum geben sich Medien, die diese sagenumwobene breite Masse erreichen, so große Mühe, das alles für ihr Publikum zu parfümieren, zu beschönigen oder gleich zu verschweigen? Seichte Klänge für das Volk, wirre Mischungen im Radio. Neue Musik? Jaja, aber nur homöopathisch. Kann man ja auch sonst niemandem zumuten, oder?
Hurz in der Elbphilharmonie?!
Natürlich brauchen diese Wahrheiten Mut und begeisterte Menschen, die dahinter stehen. Diese Menschen gibt es auch bereits vereinzelt. Daran glaube ich fest. Nur nicht an den richtigen Positionen im Medienzirkus. Man riskiert so manches mit solchen Mut-Konzepten in der großen Öffentlichkeit. Empörung, Beschwerden und sobald Neue Musik ins Spiel kommt natürlich die berühmten “Hurz!” – Kommentare.
Dafür kreiert man Überraschungsmomente, neue Hörerfahrungen und vielleicht ein wenig Neugierde direkt im Wohnzimmer der Menschen. Ich bin hoffnungslos idealistisch, ohja. Aber ist Motzen nicht auch eine Auseinandersetzung mit etwas, und doch deutlich besser, als einfach in den Schlaf gedudelt zu werden? “Hurz”- Kommentar-Verfassern lege ich persönlich übrigens grundsätzlich eine Kur in Donaueschingen ans Herz. Oder einen Besuch im Kleinen Saal der Elbphilharmonie, bei den dort residierenden Damen und Herren vom Ensemble Resonanz.
Der nächste Echo
Dieses wundervolle Eröffnungskonzert lässt nun größenwahnsinnige Ideen in meinem Köpfchen sprießen (wann ist die nächste Echo-Klassik-Gala? Kann man da noch etwas retten?). Vielleicht haben ja ein paar Verantwortliche gemerkt, dass man der breiten Masse auch ein Programm zumuten kann, das zwickt, juckt und nicht nur aus Wohlfühlklassik besteht. Schließlich haben alle vor Ort den neuen Saal lebendig verlassen – keine Programmschock-Herzinfarkte, es wurde maximal gegrummelt, sich aber nicht mal geprügelt – aus diesen Zeiten sind wir wohl raus.
Zum Schluss bleibt natürlich noch eine kleine traurige Befürchtung: Vielleicht ist dieses fantastische Programm auch nur aus der Idee entstanden, den großen Saal der Elbphilharmonie möglichst aus unterschiedlichen Ecken in verschiedenen Varianten zu bespielen. Und Klatschen hätte alles zu sehr in die Länge gezogen. Bitte verschweigt mir die Wahrheit, falls dies jemand aus sicheren Quellen bestätigen könnte – zu meinem eigenen Wohlergehen.
In Ermangelung eines Fernsehers und Zeit zur Nutzung am besagten „Eventabend“ habe ich leider keinen eigenen Eindruck gewinnen können (aber es gibt ja Mediatheken…)
Dass aber sogar meine Oma begeistert, wenn auch verzweifelt war („Das war alles sehr modern, da hätte ich Erklärungen gebraucht!“ – „Zum Gebäude oder zur Musik, Oma?“ – „Ja, beides!“) legt aber in Kombination mit den hier geschilderten Eindrücken nahe, dass das „Projekt Elbphilharmonie“ tatsächlich geglückt ist.
Bleibt nur zu hoffe, dass das Gebäude gut klimatisiert ist – man munkelt, das Hausorchester sei sonst SEHR unleidlich 😉