Hojotoho! Walking with Wagner – ein tollkühner Selbstversuch
Wenn ich meine Eltern besuche, lege ich manchmal eine seltsame und nicht ganz anständige Angewohnheit ans Tageslicht: Ich suche in Vorratsschränken nach Essen und anderen Gebrauchsdingen, um diese dann (mehr oder weniger heimlich – meistens reicht ein dramatisches Augenklimpern) mitzunehmen. Eines Sonntags führte mich mein kleptomanischer Anfall jedoch an den CD-Schrank. Dort machte ich dann eine Entdeckung, die alle meine Erwartungen (z.B. die neuesten Platten von Herrn Garrett, Frau Fischer, Unheilig…) bei weitem übertraf:
Walking with Wagner. DAS Walkingkonzept.
(Höre ich hier etwa gerade den ersten Wagnerianer kotzen?) Da meine Mutter mittlerweile ihre Nordic-Walking-Karriere beendet hatte, wurde ich ohne große Dramen stolze Besitzerin dieses Schatzes!
Wer nun meine Begeisterung für diesen Fund noch nicht nachvollziehen kann – hier ein Blick in das grandiose Booklet der CD (der zuständige Texter/Praktikant ist mein persönlicher Held!!!!):
“Walking (= schnelles Gehen) ist die ultimative sportliche Entdeckung des neuen Jahrtausends.” (Erscheinungsdatum: 2005)
“Die Musik besitzt einen nachweislich therapeutischen Effekt und wirkt sich wohltuend auf Körper, Geist und Seele aus. Sogar Tests an Tieren haben dies bewiesen. Zum Beispiel sollen Milchkühe unter dem akustischen Einfluss von klassischer Musik wesentlich mehr und bessere Milch geben.”
(Achtung Gewissenskonflikt: Darf man eigentlich aus Prinzip nur Biofleisch essen, aber dafür Musik hören, die an Tieren getestet wurde? Was sagt PETA dazu?)
Ich bin ja bekanntermaßen total trendy und fast so träge wie eine Kuh – klingt also, als wäre dieses Sportprogramm genau mein Ding! Auf zum Selbstversuch! Hojotoho! Heiaha!
Auf der CD befindet sich eine komplette Trainingseinheit. Beginnend mit einem Warm-up und endend mit der Ruhephase.
Für das authentische 2000er Feeling packte ich die CD in meinen Discman und los ging es: »PLAY«.
In meinen Ohren dröhnte direkt zum Warm-up der “Walkürenritt”. Nach einem kurzen Moment des Schams ging ich los. Underdressed-Gefühl! Ich verbinde diese Musik einfach zu sehr mit dem Besuch in der Oper. Wagner ist einfach Live-Erlebnis und keine Jogginghosenmusik.
Das Tempo enttäuschte mich allerdings direkt etwas. Weise Idee, so ein Sportprogramm dem Fitnessgrad des typischen Konzertpublikums anzupassen. Nach der ersten Ernüchterung schaute ich mich panisch um, um eine Verfolgung durch eine Helikoptereinheit oder seltsame kleine Viecher auszuschließen – im wilden Saarland ist ja alles möglich, ajo! Sicher ist sicher.
Aber: Wie hinreissend wäre es doch, wenn statt mir eine der stattlichen originalen Wagner-Walküren im Brustpanzer, mit geflügelter Haube, durch die Gegend walken würde?!
Anschließend: “Meistersinger-Ouvertüre”. Es kommt nun zu ein paar Momenten, in denen der walkende Musiker über seine eigenen Füße zu stolpern droht. Wagner-Interpreten und Sänger sind eben nicht gerade für ihre Metronom-Treue bekannt. Und Wagner auch nicht für seine Takt-Einheitlichkeit. Hier begann also meine persönliche Qual, die ich mit einem Tastendruck beendete. GRAUSAM. (Vielleicht bin ich mindestens da anspruchsvoller als eine Kuh.)
Zu “Siegfrieds Schmiedelied” ging es sich dann wieder ganz gut – mit penetrantem Hammergeklopfe. Tenöre und Rhythmus – da muss das Ganze schon idiotensicher sein – das Orchester verzichtet also besser auf weitere geplante Temposchwankungen…
Anschließend wieder ein sehr epischer Moment: “Einzug der Götter in Walhall” (Das Rheingold). Ich ertappte mich dabei, wie ich mein Spiegelbild in einer Glasscheibe überprüfte. Da zwickt was… Nich, dass da plötzlich doch ein Brustpanzer… PUH!!!!! Nur mein Sport-BH…
Gemütlich weiter mit dem “Chor der Gralsritter” (Parsifal).
Ich muss gestehen: Anschließend musste ich ein paar Wagner-Walking-Höhepunkte überspringen. Es stellte sich als unlösbare Aufgabe heraus, u. A. zum “Lohengrin-Vorspiel 3. Akt” ordentlich zu walken.
Als später dann das herzerweichende “Winterstürme wichen dem Wonnemond” erklang, musste ich sehr plötzlich stehen bleiben. Zu dieser Musik würde ich nicht mal nach Bayreuth rennen. Dazu wird es mir dabei viiiel zu warm ums Herz und zu weich in den Knien!
(Ja, ich bin ein Mädchen. Da braucht man auch ein bisschen Schnulzi-Glücksgefühle. Über so ein Liebeslied würde ich mich ja auch freuen – so lange es nicht mein eigener Bruder singt.)
Abschließend, zur Ruhephase, erklang “Isoldes Liebestod”. Spätestens hier war ich fast davon überzeugt, dass die RTL2-Redaktion ihre Finger bei dieser CD-Produktion im Spiel hatte. So viel Zynismus kenne ich doch nur aus Frauentausch!!!! “Sport ist Mord” als musikalische Ansage, oder was? Abschließende Fitnessprognose für die Zielgruppe????
Tatsächlich habe ich keinen Tropfen geschwitzt bei diesem selbstaufopfernden Experiment. Das Programm ist also Abendkleid- (als direktes Vorprogramm des Opernbesuchs) UND Rollatortauglich!
Allerdings fürchte ich mich jetzt davor, in nächster Zeit von einer wilden Horde Wagnerianern entführt und anschließend wegen Wagner-Schändung auf einem Scheiterhaufen verbrannt zu werden.
Achja:
Liebe Bayreuther Festspiele, wenn wir schon nicht eure Social-Media-Redaktion sein dürfen – wie wäre es mit einer betreuten “Walking with Wagner” – Sportgruppe in Bayreuth, für Mitarbeiter des Festspielhauses?
Lieber Verlag, dieses Konzept hat mich totaaaaal überzeugt – wie wäre es mit einer Fortsetzung der Reihe – ich hätte da bereits einige Ideen:
Schach mit Schostakowitsch? Share on X
Lachyoga mit Lachenmann? Share on X
Tiefseeperlentauchen mit Thielemann? Share on X
Sackhüpfen mit Salieri? Share on X
oder einfach: Betrinken mit Beethoven? Share on X
Denkt mal drüber nach.
Auch die Twitter-Menschen haben da einige Ideen (unter #KlassikCDfromHell):
Wirbelsäulengymnastik mit Webern!
und noch eine ganze Menge mehr…
Und für die Mutigen unter uns – hier gibt es die CD zum Experiment zu kaufen.
Neueste Kommentare