Wie es dazu kam, dass ich auf einer Bühne stand und bellte

© Barbara Pálffy
© Barbara Pálffy

»Lassen Sie ruhig«, entgegnete mir die ältere Dame bestimmend, »das stört mich nicht«. Ich ließ meine 0,5-Liter-PET-Flasche also doch im Aufbewahrungsnetz am Rücken des Bahnsitzes stecken. Erst, als wir diese Phrase der Höflichkeitsreiseliteratur bühnenreif vorgetragen hatten, fiel mir etwas an der Frau auf. Genauer gesagt an dem Korb, den sie auf ihrem Schoß abgestellt hatte: Er gurrte. Erst dieses „Gurren“ machte mir klar, dass es sich nicht um einen hässlichen Korb handelte, sondern um einen (nicht weniger hässlichen) Vogelkäfig.

Diese Erkenntnis aufgrund von bestimmten Klängen sollte mir später wieder begegnen, aber davon ahnte ich noch nichts auf meinem Weg zu den Musiktheatertagen Wien (mttw). Ich wusste nur: Die Tauben stinken und wäre Mozarts Oper „Die Zauberflöte“ heute entstanden, würde Papagena silberne Haare haben, einen Wiener Dialekt und etwas nach Tierfutter oder Parkbank riechen.

 

3. September 2016, 17:30 Wien: Smartoper

Würdest du bellen, wenn dein Smartphone es dir befiehlt? Das selbst auferlegte Topic der mttw ist dieses Jahr „Weltflucht“. Exakt ein Jahr, nachdem Deutschland die Grenze nach Österreich geöffnet hat, um Flüchtlinge aufzunehmen, die auf ihr Recht bestanden, auch in anderen Ländern Pokémon Go spielen zu dürfen, fusionieren die mttw die großen Trends unserer Zeit in einer einzigen Oper: Die Smartoper.

Die Teilnahme an der Inszenierung erfordert eine App. Diese konnte man bereits lange im Voraus über den App-Store downloaden. Bis jedoch jeder Smartphoniker erfolgreich die App heruntergeladen und sich mit dem WLAN namens „Smartoper“ verbunden hatte, vergingen satte 15 Minuten. Vermutlich mussten viele der Teilnehmer erst „Internet“ googeln, bevor sie „Google“ googelten, um danach die Wörter „smart und oper“ zu suchen und sich durch etliche Bilder von kleinen Autos und großen Opernhäusern zu klicken, bis sie endlich über einen Link auf der Startseite der Apothekenumschau zum App-Store gelangten.

Was dann folgte war eine Aneinanderreihung von Befehlen, die der von der Aufklärung geprägte Teilnehmer untertänig zu befolgen hatte. Ich verfolgte fremde Frauen, berührte den Arm eines mir fremden Mannes und stand mit anderen Mitläufern im Licht, um meine mir zugewiesene Rolle darzustellen.

Also begleitete ich den Gesang eines fremden Mannes indem ich bellte. Willkommen in Wien! Share on X

 

3. September 2016, 19:30 Wien: The Butt

Dann wird es dem kleinen Jungen zu viel. Kurz nachdem man auf der Bühne „Jesus Fucking Christ“ singt, flüchtet der blonde Bubikopf aus seiner Rolle als Spiegelhalter in sein Leben als Grundschüler zurück, der auch gerne mal über 3 Stühle hinweg den Kopf in den Schoß der Mutter legt und einschläft. Man könnte es ihm neiden, denn das Stück „The Butt“, in dem es um die Folgen des Rauchens einer letzten Zigarette geht, zieht sich selbst auf Lunge und versteht es, die Nervosität des Nikotinentzuges rüber zu bringen.

Und genau wie beim Rauchen braucht es auch die Gewöhnung, um es zu mögen. Erst als sich eine Frauengruppe ins Geschehen einmischt und den „Jürgen-von-der-Lippe-Gedächtnis-Hawaiihemd“-tragenden Protagonisten unterstützt, eröffnet sich die rauschhafte Qualität der Musik. Dank zweier Celli, einem Klavier und einem Perkussionisten konnte ich mich von der abstrusen Handlung freimachen und die atonale Musik staubsaugerartig in mir aufnehmen.

 

3. September 2016, 21:15 Wien: OPERAN! Übers Entkommen

Leider hatte ich mich etwas zu lange mit dem Programmierer der Smartoper-App unterhalten, um zu bemerken, dass das letzte Stück des Abends – und das auch noch eine Premiere – bereits angefangen hatte. Shit. Also danach Leute fragen, wie es war: Es war wohl ganz gut. Glück gehabt: Doch noch eine Kritik dazu verfasst. Weiter geht’s am nächsten Tag.

 

4. September 2016, 19:30 Uhr, Wien: OPERA of Entropy

Claude Elwood Shannon prägte 1948 mit seiner Arbeit „A Mathematical Theory of Communication“ den Begriff der Entropie und damit die moderne Informationstheorie. Soviel zu Wikipedia. Die mttw bauten im oberen Geschoss des Veranstaltungsortes WERK X verschiedene Stationen auf, die man, ähnlich wie bei einer Einkaufs-Messe, besuchen konnte. An einer Station wurde mit einer Tafel und Kreide folgende Formel erklärt:

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Und es standen wirklich Leute davor und hörten gespannt zu. An einer anderen Station erzählte eine Frau ihre Lebensgeschichte. An einer anderen Stelle konnte man sich Doppelhaushälften tattowieren lassen und wurde über die Auswahlgründe ausgefragt: »Schauen Sie fern? Dann sollten Sie ein Haus mit einer Antenne wählen«. An einer anderen Station hatte sich jemand etwas ausgedacht, um mittels eines Algorithmus aus einem Satz unendlich viele Sätze entstehen zu lassen, indem er sie in Silben teilte. Diese Silben hat er aufsprechen lassen und wurden nun neu zusammengesetzt. Dadurch entstanden „Sätze“ wie: „die eltern haben gerade aufgeraeumt und alle spielsachen spielt“.

Als der Künstler mir sein Werk erklärte, hab ich natürlich verständnisvoll genickt und meinen artsy-fartsy-Blick gestählt. Verstanden hab ich fast nichts, was nur bedingt daran lag, dass die anderen Stationen ziemlich laut waren. Aus diesen Nonsense-Sätzen wurde nun im Kontext der Installationen eine musikalische Dimension.

Erst als die Sprache von ihrer Funktion befreit wurde, ließ sie sich in ihrer ästhetischen Dimension verstehen #SoDeep. Aus Worten wurden Klänge und aus dem scheinbar wahllosen Zusammenklang entstand etwas, das immer mehr nach Musik klang. Langsam roch ich wieder dieses Tierfutter, die Parkbank und ein leises Gurren erfüllte mein Ohr.

 

5. September 2016, 17:30 Uhr: Heimfahrt

Sie drehte sich um 90 Grad, trotz zu engem Oberteil, um sich mit den Knien auf den Sitz hieven zu können. Der ganze Kraftaufwand nur, um den hinteren Sitznachbarn genau im Blick zu haben. »It’s too loud!« blökt sie unerwartet mit erkennbar deutschem Akzent los und weil dem Gesprächspartner wohl nicht direkt klar war, was denn zu laut sei, differenziert sie weiter: »the music!!!«. Ich konnte das Gesicht des hinteren Sitznachbarn leider nicht sehen, wohl aber die der anderen Fahrgäste im Zug Richtung München und sie sagten eindeutig:

Schluss!, vorbei mit der Weltflucht. Willkommen zurück.

Holger Kurtz

hat auf Anliegen seiner Eltern ("Mach doch besser was solides, Junge") von BWL zu Musikmanagement an der Universität des Saarlandes gewechselt. Dort hat er nach 323 Kaffees seinen Bachelor of Arts bestanden und studiert nun Musik- und Kulturmanagement (M.A.) in München. Mit seinen biblischen 24 Jahren hat er bereits alles erlebt und kennt das Internet noch aus der Zeit, als es noch schwarz-weiss war. Hört leidenschaftlich gerne Blues und ernste Musik. Die nmz wurde auf ihn aufmerksam, als er die nmz auf Twitte verbrannte und brennt selbst für Musikvermittlung. "Journalismus ist meine Kippe, aber Musik mein Nikotin." Peace I'm out.

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Eine Antwort

  1. 13. September 2016

    […] von Musik mit allem und viel scharf war als Blogger an einem MUSIKTHEATERTAGE-Wochenende zu Gast. Hier erzählt er von seinen Erlebnissen in […]

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