Das Wunderkind
Samstag, 16 Uhr. München.
„Das Legato in der Reprise müssen wir aber noch einmal üben, lieber Heinrich! Nicht wahr?“, rät Frau Schneider dem siebenjährigen Jungen auf den letzten Metern der Unterrichtsstunde. Kleinheinrich nickt brav mit dem Kopf, ehe er rasch seine Geige einpackt, die blauen Schuhüberzieher abstreift und durch den gepflegten Vorgarten auf den SUV seiner Eltern zuläuft, welche ihn dank einer „1+“ in Mathematik heute Abend zu einer Opernvorstellung eingeladen haben.
Gleicher Tag, gleiche Uhrzeit. 400 Meter weiter.
Völlig verdreckt kommt der siebenjährige Marius vom Bolzplatz nach Hause. Die Stollenschuhe werden nur notdürftig an der Fußmatte des Nachbarn abgestreift, bevor die postmoderne Inszenierung von Hänsel und Gretel im Gang des Mietshauses ihren verschmutzten Höhepunkt findet. Gleich gibt es Abendessen. „Hoffentlich wieder Spaghetti“, denkt Marius.
Samstag, 19 Uhr. München.
Nachdem das Nobelrestaurant verlassen wurde, läuft Heinrich an der Hand seiner in toter Tierhaut eingewickelten Mutter Richtung Haupteingang der Staatsoper. Der maßgeschneiderte Zwirn sitzt perfekt und die Schuhe glänzen. Vater hatte ihm ja auch gezeigt, wie man diese wichst. Dank ihrer VIP-Karten muss die Familie weder am Einlass warten, noch Geld für die Garderobe zahlen. Gleich beginnt die Vorstellung der Zauberflöte.
Gleicher Tag, gleiche Uhrzeit. 2,3 Kilometer südlich.
Die Spaghetti schmeckten wie immer vorzüglich und nach einem kurzen Waschgang ist Marius nun fertig für den Harry-Potter-Abend mit seinen Freunden. Seine besten drei Kumpels kommen und die Couch ist mit reichlich Chips, Gummibärchen und Cola-Light bestens für den Abend gerichtet.
Samstag, 20:17 Uhr. Oper.
Die Oper ist in vollem Gange. Bei einem lauten Schlussakkord zuckt Heinrich kurz zusammen. Nach einem strafenden Blick seiner Mutter sieht er jedoch ein, dass diese Aktion völlig überzogen und unnötig war. Außerdem weist sie mit einer kleinen Bewegung darauf hin, sich gefälligst nicht so weit nach vorne zu lehnen. Die anderen Gäste wollen ja auch etwas sehen.
Gleicher Tag, gleiche Uhrzeit. Am anderen Ende der Stadt.
„Boah, voll in die Fresse“ tönt es aus Marius` Mund, als Harry einen Klatscher abbekommt. Normalerweise sagen seine Eltern etwas gegen diese Wortwahl, aber gerade sind diese damit beschäftigt, sich mit selbst gebauten Zauberstäben zu duellieren.
Samstag, 21 Uhr. Oper.
Papagena und Papageno betreten die Bühne und Heinrich kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Kinder!“, grinst er leise. Völlig außer sich dreht sich ein Mann zwei Reihen vor ihm um und schnauzt Heinrich flüsternd an. Heinrichs Mutter bekräftigt den Herrn und beschließt, der Peinlichkeit des Kindes wegen, den Opernsaal zu verlassen.
Gleicher Tag, abends. Am anderen Ende der Stadt.
Die vier Kinder sind während des zweiten Films eingeschlafen. Da es eine Übernachtungsparty ist, verfrachten Marius‘ Eltern die vier in das nebenan gelegene Schlafzimmer. Bis morgen früh um halb sechs wird aus diesem Zimmer wohl kein Mucks mehr kommen.
Samstag, abends. München.
Nach einer Standpauke und der Aussprache von zwei Wochen Hausarrest liegt nun auch Heinrich im Bett. Bevor die Kraft der Augen nachlässt, sind die tanzenden Kinder das Letzte, was ihm durch den Kopf geht.
15 Jahre später.
Marius packt die Posaune aus. Heute ist wie jeden Mittwoch Probe des Uni-Orchesters. Durch Filmmusik hat er mit 14 die Posaune für sich entdeckt. Er übt nicht oft, freut sich aberwöchentlich auf die Probe und seine Mitmusiker. Nächste Woche ist Aufführung. Dieses Mal ist es eine Kooperation mit der Opern-AG: Die Zauberflöte.
Aus Heinrich ist kein Geigenstar geworden. Mit 15 schmiss er sein Instrument in die Ecke und rührte es danach nie wieder an.
Das Wunderkind. Entscheidet selbst.
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