kgN der Menschheit
Klassik Open Airs – gut gemeint oder gut gemacht
Der Sommer naht und damit auch die Saison der Klassik-Open Airs. Jede Stadt bzw. jedes Festival, das etwas auf sich hält, hat eines. Es scheint das ideale Konzept: Musik, im Grünen, für viele, Eintritt frei. Die Botschaft: „Wir bieten jedem etwas Hochwertiges, aber niedrigschwellig.” Und das Konzept zieht. Man muss es als wohl das derzeit erfolgreichste Klassik-Format beschreiben. Alle Generationen sind dabei, die Leute bringen ihre ganze Familie mit, breiten die Picknickdecke aus, lassen sich mit Musik berieseln und den Riesling wirken.
Das Klassik Open-Air Nürnberg beschreibt sich selbst so:
Die bunte Stadtgesellschaft von heute trifft sich zum entspannten Picknick mit Wunderkerzen und Feuerwerk: Metal-Fans lagern neben den Mitgliedern des musikalischen Damenkränzchens, eine türkische Picknickgesellschaft teilt sich das Brot mit russischen Konzertliebhabern. Klassik-Kenner und Sound-Einsteiger lagern friedlich und entspannt vereint auf der grünen Wiese, reagieren spontan mit Applaus und Tanzeinlagen. Jung und Alt, Familien und Freunde pilgern zu diesem atemberaubenden Bürgerfest, das mal als „Woodstock der klassischen Musik“ bezeichnet wurde.
https://klassikopenair.nuernberg.de/klassik-open-air/das-open-air/
[„Woodstock der klassischen Musik” klingt wie Cola Zero, Caro-Kaffee oder Trockensex. Wir schweigen einfach über solch Marketing-Sprech. D’accord?]
Bunt, vielfältig, international, szenenübergreifend, entspannt, spontan, atemberaubend – kurz: Frieden auf Erden, alle haben sich lieb. Ich war noch nie beim Nürnberger Klassik Open Air. Wenn das wirklich so ist, ist das fantastisch. Ohne Wenn und Aber. Die Frage ist, warum machen die das dann nicht jeden Tag?
Was in der Botschaft auch mitschwingt „Klassik ist per se gut und bildet.” Das ist Bullshit. Es ist Event. Pop. Mainstream. Seicht und weichgespült. In Nürnberg ist für das diesjährige im Juli stattfindende Open Air noch nicht einmal das Programm bekannt gegeben. Hannover gibt Cavalleria rusticana von Pietro Mascagni sowie Der Bajazzo von Ruggero Leoncavallo. Berlin: „Das Classic Open Air bietet einen Streifzug durch die verschiedensten Musikgenres und -epochen und verspricht ein Programm, das für jeden Geschmack ein besonderes Klangerlebnis bereithält.“ Kurz: Programm ist doch egal.
Aber: why not? Wenn das Ergebnis ist, dass wir alle mal friedlich miteinander zusammen kommen (*hihi kommen*), leben und leben lassen.
„Der Zauber klassischer Musik sorgte für eine Neudefinition und positive Assoziationen zum Ort.”
https://klassikopenair.nuernberg.de/klassik-open-air/das-open-air/
Blablabla. Es gibt keinen Zauber in klassischer Musik, den es nicht auch in Deutschrap oder Death Metal geben könnte. Klassik Open Air ist einfach der kgN* der Menschheit: chillen, fressen und Musik aka einfach mal die Fresse halten.
Alle, im Sinne von ‚alle Schichten und Gruppen dieser Gesellschaft‘, kommen zusammen, ist auch nicht ganz richtig. Das etepetete-Paar verschreckt man natürlich. Mit dem gemeinen Volk auf dem Boden sitzen hat was Würdeloses. Dafür hat z. B. Hannover eine tolle Lösung gefunden: Der Pöbel darf im Maschpark sitzen und auf Leinwände starren und die Bourgeoisie (günstigstes Ticket: 66,35 €) sitzt auf einer Tribüne hinter dem Neuen Rathaus und blickt auf die eigens dafür jährlich aufgebaute Bühne mit einem transparenten Dach.
„Gut gemeint oder gut gemacht?“ Das war die Ausgangsfrage, die die „Redaktion“ mir für diesen Artikel stellte. Fragen nach Qualität implizieren den Vergleich. In diesem Fall ist es vermutlich der Konzertsaal als Konkurrenz. Im Konzertsaal packt Opa neben einem unentwegt Bonbons aus, die Tante vor einem schnarcht, entweder man erfriert dank einer hochpotenten Klimaanlage oder fällt in ein künstliches Koma aufgrund fehlenden Sauerstoffs, weil eben eine solche Anlage fehlt. Im Gedanken ist man noch bei der Arbeit, geht durch, was man nach dem Konzert noch erledigen muss. …
[Meine Meinung. Redaktion: „Halt. Stopp.“ An dieser Stelle des Textes entspann sich eine Diskussion innerhalb der Redaktion. Deshalb diskutieren Laura und ich das noch einmal gesondert aus.
Ich finde, trotz der musikalischen Belanglosigkeit und den leeren Worthüseln der Marketingabteilungen sind Klassik Open-Airs in der Regel sowohl gut gemeint als auch gut gemacht. Zum einen ist die Intention super , Menschen zum Musik hören im Freien einzuladen. Zum anderen ist es gut gemacht in logistischer Hinsicht. Es sind Meisterleistungen, irgendwo auf einer grünen Wiese eine Bühne aufzubauen, ein ganzes Orchester hinzukarren und dann eine Akustik auf die Beine zu stellen, dass man auch noch fünf Meter von der Bühne entfernt was hören kann. Was es aber nicht ist: eine nachhaltige, einfache Lösung um von heute auf morgen alle zu bilden und zu besseren Menschen zu machen. Aber auch Frieden, Geselligkeit und einen Sitzen haben, sind nicht nur kleinste gemeinsamen Nenner, sondern vielleicht ein sehr großer gemeinsamer Teiler.
*für alle die in Mathe nicht aufgepasst haben: kleinster gemeinsamer Nenner
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